Der Afsluitdijk in Nordholland entstand 1932 als Jahrhundertprojekt niederländischer Ingenieurkunst und schützt seither das Land vor Flutkatastrophen durch die Nordsee. Nun wird am Abschlussdeich mittels modernen Technik- und Natur-Know-how ein neues Wunder vollbracht, das die Fischwanderung wieder ermöglicht wie vor dem Bau des Damms. Besucher können das ganze bestaunen.
Vismigratierivier NL als weltweites Pilotprojekt
Chris Bakker ist in seinem Element, wenn er über sein Großprojekt am Afsluitdijk im Norden Hollands spricht. Der Abschlussdeich wehrt brachiale Flutwellen der Nordsee ab, seit er 1932 am Übergang von Nordsee und Zuiderzee, damals eine Ausbuchtung der Nordsee gen Süden, gebaut wurde. Mit dem Damm wurden Nordsee und Ausbuchtung getrennt, die Zuiderzee wurde Binnensee und umbenannt in Ijsselmeer. Das Ziel des neuen Projekts: „Wir bringen die Fischwanderung zurück, wie sie vor dem Bau des Afsluitdijk war“, so Bakker. Das Projekt heißt Vismigratierivier NL und ist ein Projekt der Provinz Friesland. Und Chris Bakker, Direktor der friesischen Naturschutzorganisation IT Fryske GEA, verantwortet das Vorhaben.

Durch den Vismigratierivier NL sind auch die Fische wieder in ihrem Element. Das wortwörtlich und zwar konkret Aale, Lachse, Flundern, Meeresforellen, Stichlinge, Störe und weitere Arten. Denn die sind durch die Evolution „Wandervögel“. Das heißt: Sie wechseln zwischen Salzwasser – Meer – und Süßwasser – Flüsse und Seen – hin- und her. „Für diese Fische haben wir einen Wasserweg mitten durch den Afsluitdijk gebaut, damit sie wieder wandern können – von der Nordsee pbers Wattenmeer ins Ijsselmeer und in die verbundenen Flüsse wie Rhein und Maas und retour.“ 250 Mio. Fische, so Bakker, werden pro Jahr den Weg machen.

Initiatoren des Vismigratierivier NL sind neben der IT Fryske Gea etwa Waddenvereniging, NetVis Werk oder Sportvisserij Nederland. Finanziers unter anderen die Provinzen Friesland und Nord-Holland, der Waddenfonds, die nationale Postcode Loterij etc. Realisiert wird das Naturprojekt im Rahmen eines Gesamtprojekts rund um den Afsluitdijk, für den das Ministerium für Infrastruktur und Wasserwirtschaft bzw. seine Organisationseinheit Rijkswaterstaat zuständig ist, die auch weitere Wassermanagement-Bauwerke betreut
Aale, Lachse und andere Fische brauchen Salz- und Süßwasser für Leben und Fortpflanzung
Die Kosten des Gesamtprojekts: 55 Mio. Euro. Dazu gehört De Nieuwe Afsluitdijk mit baulichen und technischen Maßnahmen am Bollwerk, um es für den Klimawandel und damit einhergehende höhere Wasserstände fitzuhalten. Etwa in Form eines neuen Rolltors von 52 Meter Länge, das als zusätzliche Absicherung ausfährt, wenn von der Nordsee immer mehr Wassermengen Richtung Ijsselmeer drücken.

Der Grund für das ökologische Projekt der Provinz Friesland: Die Migration der Wanderfische hat der Afsluitdijk seit gut 90 Jahren größtenteils bis ganz verhindert – mit Folgen bis in die Anrainer-Staaten Deutschland und Schweiz, wo bekanntlich der Rhein entspringt. Wirkt das Bauwerk nicht mehr als derartige Barriere, passiert alles wie früher: Die Wanderfische leben in der Nordsee, aber laichen im Süßwassergefilde Ijsselmeer und den verbundenen Flüssen. Ist der Nachwuchs groß, schwimmt er wie die Eltern zurück in die Nordsee, lebt dort. Wandert zum Laichen retour ins süße Nass, wenn geschlechtsreif. Experte Bakker: „Ein Zyklus von Fortpflanzung und Fortbestand, den der Afsluitdijk jäh unterbrach.“

Der Zyklus lebt nun also wieder auf. „Das ist positiv für den Naturschutz, die Berufsfischer und die Hobbyangler“ (Bakker). Zumal das Süßwasserrevier nun größer sei. Das Ijsselmeer ist nämlich Süßwasser pur, seit es nur noch von Flüssen und Regen gespeist wird, seit der Damm Wattenmeer und Nordsee aussperrt. So wurde es zum größten Trinkwasserreservoir weit und breit. Der Ökologie-Manager: „Wir hoffen, dass die Fische auch wieder in den Rhein nach Deutschland und bis in die Schweiz wandern.“
Bei Planung und Bau des Bollwerks gegen die Fluten damals musste jedoch das „ökologische Desaster“, wie Bakker die Folgen der Barriere für die Fischwelt benennt, zurücktreten. „Auch nahm man in Kauf, dass mangels Fischwanderung Tausende Fischer ihren Job verloren.“ Aber keine Frage, so Bakker: „Der Afsluitdijk ist und bleibt ein Wunder der Technik, auf das man zurecht stolz ist.“

Sein Hauptzweck als Damm ging und geht vor und ist erreicht: den Fraß durch stürmische Nord- und Zuidersee am Land zu stoppen und Tausende Todesopfer in Folge von Überflutungen wie einst zu verhindern. „Das war umso wichtiger, da viel Land der nördlichen Niederlande sogar einige Meter unter dem Meeresspiegel liegt“, so Hans Boogert, verantwortlicher Ingenieur für den Afsluitdijk beim Rijkswaterstaat bis zu seinem Ruhestand und weiter am Bollwerk zu Diensten.
Schon in den Jahrhunderten vor dem Dammbau versuchten die Holländer in ihrem Norden, das immer wieder überflutete bzw. unterm Meeresspiegel liegende Land mit kleinen Deichen, Kanälen und Windmühlen trocken zu halten und trocken zu legen. Und haben so schon viel neuen Grund und Boden dazugewonnen: die Polder. Dann wurde von 1927 bis 1932 der Afslutidijk zwischen den Gemeinden Den Oever im Westen und Harlingen im Osten gebaut und verbindet seither die Provinzen Friesland und Nord-Holland. Dafür die treibende Kraft: Ingenieur Cornelis Lely, damals Minister für Wasserwirtschaft. Ganz Ingenieur stellt Boogert klar: „Der Afsluitdijk ist fachlich gesehen ein Damm, da er Wasser von Wasser trennt und nicht Wasser von Land wie ein Deich.“

Und nennt einige wenige Daten zum Bollwerk: 32 Kilometer lang, an seiner breitesten Stelle 90 Meter, an der höchsten 7,8 Meter. Er bietet Platz für die vierspurige Autobahn A7 plus Rad- und Fußgängerweg. In zirka seiner Mitte wurde die Arbeitsinsel Kornwederzand künstlich angelegt. Hier verrichten auch die Lorentzsluizen ihre Arbeit als die Nordsee, Wattenmeer und Ijsselmeer verbindenden Schleusen für die Schifffahrt, ob Berufsschifffahrt oder Hobbysegelyacht.

Nun also der neue Vismigratierivier NL, der außer Ökologie-Know-how auch ausgefeiltes Statik-Können in Sachen Wassertechnologien erfordert. Denn auch das ist keine Frage, so Ingenieur Boogert: „Für den Wasserdurchlass zugunsten der Fische mussten wir den Damm an einer Stelle dauerhaft öffnen. Ganz entgegen seiner ureigenen Aufgabe, dicht zu halten. Dass der Damm bei der Öffnung nachgeben könnte, hat mir schlaflose Nächte bereitet. Als konkret die Bohrung der Öffnung anstand, dachte ich, nicht dass ausgerechnet jetzt ein Jahrhundertsturm kommt. Aber alles hat geklappt.“ Nach Vorbereitungen seit 2011 mit Berechnungen, Modellierungen, akribischer Planung der Bauarbeiten und ihren Durchführungen.
Nun ist es vollbracht: Der Damm bekam eine Öffnung über eine Breite von 15 Meter, damit Süßwasser aus dem Ijsselmeer wie ein Kanal schnurgerade durch die Öffnung zur Nordsee fließt, wenn deren Wasser sich wegen Ebbe zurückzieht. Boogert: „Den Durchfluss steuert der Rhythmus der Gezeiten. Alles geht ohne Pumpen.“ Das geschieht 24/7 an 365 Tagen im Jahr. Es sei denn, so Boogert, es kommt Sturm auf und könnte Salzwasser ins Ijsselmeer drücken. Das darf nicht passieren, weil das Ijsselmeer – siehe oben – die Region mit Trinkwasser versorgt. „Damit das nicht geschieht, schließen wir die Öffnung vorsorglich auf Zeit durch zwei neue Schotten. Die Schotten bzw. Schieber sind sechs Meter hoch und aus innovativem faserverstärktem Kunststoff angefertigt. Dadurch sind sie leichter im Handling und rostfrei.“

Im Ijsselmeer verläuft der Wasserstrom als Teil des Wanderwegs wie ein mäandernder Fluss – als eine Art Korridor für die Fische – von 4,5 Kilometer Länge. Soll heißen: Er fließt in großen Schleifen durch das Ijsselmeer bis zum Afsluitdijk und dann geradeaus durch die Durchflussöffnung. Bakker: „Durch die Länge bekommen die Fische Zeit, um sich vom Salzwasser ans Süßwasser und umgekehrt anzupassen.“ Überdies ist die reine Durchflussöffnung im Damm in zwei unterschiedlich breite Öffnungen aufgeteilt – quasi in zwei Schwimmbahnen fürs Hin und Her: Die eine ist für die starken Schwimmer unter den Wanderfischen wie Aal, Lachs oder Renke bestimmt.

Die andere ist sichtlich schmaler und der Weg für schwache Schwimmer wie Glasaal, Heilbutt oder Stichling. Die Kleinen werden unterstützt durch die stärkere Wasserströmung, die der schmale Durchfluss erzeugt – ist also eine echte Wanderhilfe. Wenn man das alles hört und sieht, wird einem klar, dass auf Seiten der Ökologen ebenso jede Menge Analysen, Modellierungen etc. für den Vismigratierivier NL erforderlich waren. Zumal er ein Pilotprojekt bezüglich Biodiversität und technischen Möglichkeiten ist, an dem international Interesse besteht. Bakker: „Erstmals wird nämlich solch ein Fluss in einem Gezeitenrevier angelegt. Noch dazu genau auf der Grenze von Salz- und Süßwasser. Er gilt als wegweisend, wie Wassermanagement und Naturschutz Hand in Hand funktionieren können. Und wie auch die Fischerei profitieren kann.“
Wassermanagement und Naturschutz gehen Hand in Hand
Und das alles gerade auch, indem hydraulische Ingenieurskunst und natürliche Ingredienzien gekonnt austariert werden: sprich Wasserhöhen von Flüssen, Ijsselmeer und Nordsee, die Gezeiten des Meeres und das Wetter. Und natürlich weil den Wanderfischen der kraft Evolution erzeugte Drang nach Süßwasser nach wie vor in der Nase sitzt. Hin- und herwandern am Afsluitdijk – das versuchten sie nach dem Dammbau daher zwar auch weiterhin, kamen von der Nordsee aber 90 Jahre nur bis zum Afsluitdijk und standen hier quasi vor verschlossener Tür.

Das war umso übler, weil die fischfressende Vogelschar das ausnutzte, sich auf die vergeblich vor dem verschlossenen Afsluitdijk wartenden Fische stürzte und verspeiste. Da half es nur wenig, dass sich die Schifffahrtsschleusen tagtäglich öffneten. Bakker: „Hier schafften es nur die stärksten Schwimmer unter den Fischen ins Ijsselmeer und die Flüsse und wieder zurück. Das alles kommt nun wieder ins ökologische Gleichgewicht.“ Dazu gehört auch, dass die Fischereiboote sich nun nicht einfach am Vismigratierivier positionieren dürfen, um fette Fänge zu machen. Bakker: „Das verhindert eine Bannmeile um die entscheidenden Stellen.“

Und warum ist die Öffnung des Damms um einige Meter breiter, als es der Durchfluss für die Fische ist. Bakker und Boogert unisono: „Damit Besucher ebenfalls durch den Damm wandern können wie die Fische.“ Das geht entlang der Schwimmbahnen der Fische. Also los. Zunächst auf Kornwederzand zum Wadden Center mit Museum, Restaurant und Toppblick auf das Ijsselmeer zur einen und Wattenmeer und Nordsee zur anderen Seite. Weiter über eine Plattform zu einer Treppe. Hier fällt der Blick auf das neue Stück Mauerwerk mit Fischsymbolen, die wie eine Statue in Stein gemeißelt sind (Foto oben).
Nun die Treppe hinab – da sind die Wanderfische ganz in ihrem Element. Aber auch die Ökologen nutzen die Infrastruktur – „für Studien, indem wir die Migration beobachten, welche Fische wann genau wie weit wandern. Wir können daraus wichtige Erkenntnisse ziehen“, so Bakker. Und ist ganz in seinem Element.
Websites und wichtig zu wissen
Der Projekt Vismigratierivier NL wird 2026 komplett fertig gestellt sein, schon jetzt sind geführte Touren möglich. Ausführliche Info zum Projekt www.vismigratierivier.nl. Touren per Boot oder zu Fuß anzufragen über das Waddencenter https://afsluitdijkwaddencenter.nl; zur Naturschutzorganisation Fryske Gea www.itfryskegea.nl
Details zum Abschlussdeich https://theafsluitdijk.com; zum Waddencenter www.visitwadden.nl.
Das Wattenmeer gehört zum Unesco-Weltnaturerbe und umfasst das Gebiet vom niederländischen Festland bis zur Außenseite der Watteninseln. Dann erst beginnt streng genommen die Nordsee.

Allgemeines zum Reiseland Holland www.holland.com; www.visitnetherlands.com @visitnetherlands #visitnetherlands