Reisen mit dem Frachtschiff sind die Langeweile selbst. Da passiert ja nichts – anders als auf Kreuzfahrten. So heißt es jedenfalls. Unser Autor Peter Morner fuhr mit dem Container „Rio Negro“ von Hamburg nach Buenos Aires. Er wollte es genau wissen: Passiert auf einem Frachter wirklich nichts?
Autor: Peter Morner/Archiv 2011
Spätestens als mich der Shuttlebus mit meinem kleinen Koffer und dem Rucksack in Greifnähe vor dem riesigen roten Schiff mit der Aufschrift „Rio Negro“ am Heck im Hamburger Hafen am Burchardkai ablädt und icg mir – plötzlich allein – auf einen Schlag verdammt verlassen vorkommt, bin ich fest davon überzeugt: Die Idee, mit einem Containerschiff nach Buenos Aires zu fahren, war doch ein Granatenfehler. Dabei bin ich gar nicht so ganz allein. Im Gegenteil. Hamburg ist schließlich nach Rotterdam und Antwerpen der größte Hafen Europas.
Um einen herum wieseln und wuseln zu Dutzenden Angst erregende, piepende Gabelstapler mit Containern in ihren Fängen. Gewaltige, laut tutende, auf Schienen hin- und her fahrende Kräne direkt neben einem wuchten so genannte Reefer (Kühlcontainer) in den mächtigen Bauch der „Rio Negro“.
Eigentlich will ich jetzt wirklich nicht mehr. Lieber zurück auf die andere Seite der Elbe und nach Hause. Nach wenigen Minuten, die sich für mich zu Ewigkeiten dehnen, kommt schließlich ein Mann in rotem Overall und weißem Helm auf mich zu und fordert mich beinahe mitleidig, aber doch unmissverständlich auf, ich dürfe hier nun wirklich nicht mehr länger herumstehen und solle bitte schleunigst die „Gangway“, gerade mal eine wacklige Leiter, die scheint’s im grau-dunstigen Himmel Hamburgs zu verschwinden droht, nur mutig nach oben klettern.
Endlich oben auf dem „Upperdeck“ angekommen, fragt ein mittelgroßer Mann mit weißen Zähnen im braunen, von schwarzen Haaren umrandeten Gesicht in einem speziellen kiribati-englisch, was der Ankömmling ausgerechnet jetzt beim Ladevorgang hier wolle. Schließlich telefoniert der Kiribati doch mit dem ersten Offizier, den sie an Bord Chief Mate nennen. „Sie sind also unser Passagier – unser einziger übrigens. Ich bringe Sie jetzt auf Ihre Kammer, und um sechs Uhr hole ich sie zum Abendessen ab – in die Offiziersmesse auf dem B-Deck“. Die knappe Ansage des Ersten, Mathis Ruby, heißt übersetzt für den Passagier eindeutig: Pack‘ erst mal deine Sachen aus und lass’ uns im Moment in Ruhe.
Der einzige Passagier
Der Fahrstuhl bringt mich noch einmal sechs Stockwerke höher zum F-Deck in meine Kammer: eine richtig feine Suite – zwei Zimmer mit Fernseher, Telefon, Kühlschrank, Dusche und herrlichem Blick aus zwei großen Bullaugen flussabwärts in Richtung Blankenese. Das macht Mut: So schlecht ist es hier doch gar nicht.
Genau 287 Meter ist die Rio Negro lang und 40 Meter breit. Verglichen mit diesem Frachter ist zum Beispiel das Kreuzfahrtschiff Aidasol der Aida-Gruppe ein bescheidenes Boot mit nur 252 Meter in der Länge und 32 Meter in der Breite. Die Aidasol allerdings hat mehr als 1000 Gästekabinen. Ich dagegen bin auf der Rio Negro der einzige Passagier. Es gibt aber noch mehr, noch gewaltigere Unterschiede zu solch weißen Luxuslinern – wie sich schon sehr bald zeigen wird. Und genau dafür fahre ich in den nächsten drei Wochen auf der Rio Negro mit – um das Leben an Bord eines Containerschiffes zu erkunden.
Der Kapitän und seine Offiziere
Mathis Ruby, der erste Offizier, klopft pünktlich an die Tür der Kammer, an der draußen „Owner“ steht. Es ist die Suite des Passagiers. So hat Kapitän Thomas Berndt großzügig entschieden. Der Kapitän eines Schiffes ist noch immer wie in alten Zeiten der „Master next God“. Auch hier. Der Erste hüpft die saubere Treppe bis zum B-Deck hinunter. Dort in der Offiziersmesse, wo gegessen wird, gibt es zwei große Tische: den kleineren runden für Kapitän Berndt, für den Chefingenieur Martin-Georg Boehm, den Chief Mate sowie den Passagier. Der Rest der Offiziere sitzt am rechteckigen Tisch.
Alle Männer und eine Frau, der dritte Offizier, Rike Schettler, schütteln dem „Neuen“ die Hand: „Willkommen an Bord!“ Bei Tisch geht es um technische Probleme, um die „Reefer“, um den Lotsen, die Schlepper und ob denn pünktlich gegen 22 Uhr ausgelaufen werden kann. Ich höre still zu und verstehe nicht viel. Dann aber fragt der Kapitän mich recht direkt, was ich denn hier an Bord für die langen nächsten drei Wochen bis Buenos Aires überhaupt will: „Bei uns auf der Rio Negro passiert nichts.
Kein Feuerwerk zum Abschied, kein Tanz bei Kerzenschein, kein Kapitänsdinner im weißen Smoking, kein Rolling-Stones-Konzert, keine Shoppingmall, kein Spa- und Wellnesstempel, kein Kabarett, kein Hully Gully, kein Partnertreff – na das schon gar nicht. Ehrlich, hier bei uns passiert nichts. Rein gar nichts.“
Gar nichts? Wirklich nichts?
6000 Container Fracht
Dabei gleitet das gigantische Schiff mit seinen fast 6000 Containern vom Lotsen geleitet und von zwei Schleppern gezogen und geschoben wenig später langsam ins Fahrwasser der Elbe, lässt den Michel, Neumühlen und die Landungsbrücken hinter sich, vorbei an Teufelsbrück. Der Kapitän hatte mich beim Dinner eingeladen: „Kommen Sie doch zu uns nach oben auf die Brücke.“ Dorthin ist es von meiner Kammer auf dem F-Deck nur eine kleine Treppe aufwärts. Nun kommt der Leuchtturm auf dem Kanonenberg zur Rechten. Links die Airbus Werke. Das im letzten Abendlicht wunderbar weiß schimmernde Blankenese auf Augenhöhe – auf der Brücke sind es 38 Meter über dem Wasser der dunklen Elbe.
Für einige Minuten verlässt Kapitän Berndt, den sie an Bord auch Master nennen, den Kommandostand in der Glaskanzel, gesellt sich zu mir auf der Brücke im Freien und sagt: „Seemannsromantik bei Mondschein? Wenn Sie Lust haben, kommen Sie nur gern immer zu mir auf die Brücke. Wenn Sie uns stören, werden wir es Ihnen schon sagen. Anfangs ist das immer bei uns mit neuen Crews ein wenig hektisch. Alles in allem sind wir 25 zusammen gewürfelte Seeleute. Deutsche, Polen, die Männer aus Kiribati und den Philippinen. Das spielt sich aber schnell ein. Morgen früh zeigt Ihnen unser dritter Offizier, die einzige Frau an Bord, das Schiff – Ihr Schiff“.
Vor dem Einschlafen in meiner ersten Nacht an Bord – beim leichten Wiegen des Schiffes und dem beruhigenden gleichmäßigen Stampfen des Diesels mit seinen 45 760 Kilowatt (1 Kilowatt gleich 1,36 PS) – bin ich mir zum zweiten Mal nicht mehr so ganz sicher, ob die Entscheidung, mit der Rio Negro der zum Bielefelder Oetker-Konzern gehörenden Reederei Hamburg Süd nach Argentinien zu schippern, tatsächlich so granatenfalsch war.
Lotse an Bord
An- und Ablegemanöver sind auf der Brücke immer von einer gewissen Spannung begleitet. Der Passagier beobachtet den Lotsen, der jetzt die Steuerkommandos gibt, die der Erste – die angegebene Gradzahl penibel wiederholend – ausführt, ohne dass Kapitän Berndt die letzte Verantwortung für Schiff und Mannschaft verliert. Keine immer so ganz einfache Situation für beide. Schon vor dem Festmachen in Antwerpen ist der quirlige dritte Ingenieur Timm Lau nervös. Er möchte schnell zur Seemannsmission, um mit seiner „Süßen“ auf der Insel Rügen preiswert zu telefonieren. Der Seemannspastor hat eine Stadtrundfahrt für die drei Trainees und weitere Interessierte der Rio Negro arrangiert. Zum Abschluss ein schnelles Bier vor dem Rathaus der Stadt.
Schon wenige Stunden später geht es weiter nach Le Havre. Zeit ist Geld für den Reeder in Hamburg. Und Fahrplan ist eben Fahrplan. Und die Interessen der Seeleute? Na, lassen wir das Thema.
Hier in der Normandie kommt der junge französische Lotse mit dem Hubschrauber an Bord. Und das bei heftigem Wind und Schmuddelregen. Selbst der Laie erkennt: Das ist eine artistische Meisterleistung von Pilot und Lotsen.
Volle Fahrt voraus
Beim Auslaufen am nächsten Morgen muss die Rio Negro wenden. Der Laie steht wieder mit auf der Brücke und fragt sich: Das 287 Meter lange Schiff und ein nur 400 Meter breiter blinder Kanal – wie soll das gehen? Der Kapitän sieht mein besorgtes Gesicht und lacht: „Nur keine Bange. Da vorn sind es noch lässige hundert Meter bis zum Kai.“
Das Ziel ist Santos in Brasilien, zuvor geht es durch den Golf von Biskaya. Nun kehrt Routine ein. Mit 14 bis 19 Knoten (1 Knoten sind 1,852 Km oder 1 Seemeile) pflügt die Rio Negro durch die immer wärmer und blauer werdende See. Der kleine Pool an Deck wird mit Seewasser gefüllt.
Fliegende Fische, Delfine und später auch Wale zu Dutzenden tauchen auf, springen oft paarweise wie verliebt aus dem warmen Wasser. Der Pott schippert da so um 19 Grad Süd/38 Grad West. Es geht vorbei an Madeira und den Kapverden.
Längst habe ich die schönsten Plätze an Bord entdeckt. Bis zum Bug, der Back, sind es allerdings mehr als zweihundert Meter dicht an den weiß und mächtig schäumenden Wellen vorbei, von denen mich nur die Reling trennt. Bei dem Fußmarsch hierher stellt sich bei mir schon ein wenig Angst ein. Doch hier hinten summt nur leise der Wind, das Dröhnen der Maschine ist nicht zu hören. Noch dazu gehört mir hier das komplette Deck mit Liegestuhl und Sonne satt.
Wespe im Bier
Eines Nachmittags sehe ich den Maschinenmeister Wilfried Hinz mit seinen Trainees auf dem E-Deck in der langsam untergehenden Sonne stehen. Willi, so nennen ihn an Bord alle. Er hat sich mit dem im Overall verstauten Schraubenzieher gerade sein Astra-Alsterwasser geöffnet. Da fliegt ihm eine Wespe in die Flasche. Er flucht: „Warum fliegt die einzige Wespe im Umkreis von 1000 Seemeilen ausgerechnet in mein Bier?“
Am Himmel die Sterne
Der „Neue“, der Passagier, gehört schon längst mit zur Crew. Ich trinke mit den Offizieren abends ein gemütliches Bier. Wir bewundern zusammen die sich immer ändernden Wolkenformationen.
Beobachten gemeinsam die sich auf der Fischjagd ins Meer stürzenden Seevögel. Schwärmen nachts an Deck vom einmaligen Sternenhimmel und suchen am Firmament das Kreuz des Südens.
Acht-Meter-Propeller
Daniel Jacobs, der erste Elektriker, hat mir, dem Kameraden auf Zeit, inzwischen beigebracht, wie eine Bierflasche elegant mit dem Feuerzeug geöffnet wird. Chief Martin-Georg Boehm zeigte mir den an eine Kathedrale erinnernden Maschinenraum.
Mehr als zwölf Meter geht es tief und steil die Eisentreppen hinab in den lärmenden Hades des Chefingenieurs und seiner Leute. Allein rund einen Meter Durchmesser hat die Welle, die den Acht-Meter-Propeller antreibt. Die Zylinder, die sehr komplizierten Einspritzsysteme, die Steuerpulte: “In diesem Schiff ist mehr Technik eingebaut als in einer Boeing 747.“
Mit Dreizack
So richtig feierlich wird es, als der Äquator überschritten wird. Bis zur Back muss ich hinter dem dritten Offizier, der mit Topfdeckeln einen Angst erzeugenden Lärm macht, her marschieren. Vorne am Bug sitzt bereits der furcht erregende Neptun auf einer Ankerwinde mir seinem Dreizack.
Mit Netzen wird der Passagier gefangen, mit schwarzer Farbe bemalt, mit Wasser besprüht und endlich nach allen anderen Torturen auf den Namen „Tortuga Scribens“ getauft und in Neptuns Reich gnädig aufgenommen.
Stürmische Zeit
In der letzten Nacht – schon im Mündungsbereich des Rio de la Plata, Buenos Aires leuchtet bereits in der Ferne – fegt ein Pampero – ein gefürchteter Sturm aus Südwesten – heran. Blitze zucken. Donner rollt über die See. Regen schlägt sturmgetrieben waagerecht gegen die dicke Glaswand der Kommandobrücke. Kapitän Thomas Berndt entscheidet: „Wir ankern!“ Das Schiff dreht sich um den Anker. Die Kette legt sich über die Bugwulst. Nach zwei Stunden ist der Spuk vorbei.
Am nächsten Morgen im Hafen, als alle versammelten Offiziere ihren Tortuga Scribens auf dem Upperdeck verabschieden und ihn sogar freundschaftlich umarmen, sagt Kapitän Thomas Berndt trocken: „Der Süd-West-Sturm gestern. Na ja. Endlich ist auch bei uns mal was passiert“.
Websites und wichtige Info
Frachtschiffreisen in alle Welt organisiert die Hamburg Süd Reiseagentur in Hamburg, Telefon 040-822115072; Website www.hamburgsued-frachtschiffreisen.de. Für die dreiwöchige Reise von Hamburg über das brasilianische Santos nach Buenos Aires waren Pficht: ärztliches Gesundheitszeugnis, Krankenreiseversicherung und gültige Gelbfieberimpfung. Bei solchen Reisen gibt es keinen Arzt an Bord. Nicht nur wegen der touristischen Attraktionen am Ziel: Für diese und andere Frachtschiff-Touren empfiehlt sich ein zumindest kurzer Aufenthalt am Zielhafen, weil Frachtschiffe nicht immer pünktlich sein können.
Die Reiseagentur besorgt auch Hotel im Zielhafen sowie den Rückflug. Eine gute Hotel-Adresse in Buenos Aires: das im Zentrum gelegene Reino del Plata Boutique Hotel; www.reno-del-plata.hotels-argentina.net.
Nicht zuletzt: Merken Sie sich bei Landgängen immer den Liegeplatz des Schiffes. Und vergessen Sie nie: Frachtschiffe warten nicht.
Autor und alle Fotos: Peter Morner (+)