Il Redentore

Venedig – zwischen Traum und Albtraum

Auf der Suche nach den versteckten Schätzen der Lagunenstadt – ein Rundkurs abseits vom Rialto-Rummel

Autor: Peter Morner/Archiv 2010

Im August ist es in der kleinen Altstadt mit ihren gerade mal 60 000 Einwohnern zu heiß und im Winter regnerisch, kalt und ungemütlich. Und im Rest des Jahres? Da drängeln und schieben sich übers Jahr Millionen Besucher über Markusplatz und Rialto-Brücke. Das auf überfüllten Terrassen am Wasser und auch sonst als „Touristenmenu“ angebotene Essen ist eher mies. Eine halbe Stunde Gondelfahrt kostet sage und schreibe Richtung 80 bis 100 Euro. Hunderte von Taschendieben treiben ihr Unwesen. Billiger Kitsch wartet zu überhöhten Preisen in reihenweise aufgestellten Souvenirbuden auf abzuzockende Käufer. In drückender Sommerhitze mischen sich Gerüche der schwitzenden Menschenmassen mit denen der Lagune.

Venedigs weltberühmte Lagune

Venedig ein Albtraum? – „Ja und nein“, antwortet Martina Boffelli, deren Mutter aus Würzburg der Liebe wegen nach Venedig kam – deshalb das perfekte deutsch der staatlich autorisierten Fremdenführerin –, diplomatisch. „Ich zeige meinen staunenden Gästen gern ein total verborgenes Venedig, eine wunderbare zauberhafte Perle, wie sie nur die wenigsten Besucher meiner Stadt für sich entdecken.“ Unser Treffpunkt ist der erst vor wenigen Jahren für 125 Millionen Euro sorgfältig renovierte Altbau – eine ehemalige Nudelfabrik -, seit 2007 das Hilton Hotel auf der Insel Giudecca und nicht viel mehr als einen weiten Steinwurf vom zentral gelegenen Markusplatz entfernt, von ihm getrennt lediglich einige hundert Meter durch das Wasser der Adria.

Hilton Molino Stucky

Gelegentlich gestattet das Hotel Gästen und lieb bittenden Besuchern den Aufstieg auf den Turm der Molino Stucky, der einst mit Abstand größten Nudelfabrik Italiens. Keine Frage, der Rundumblick von hier oben ist der wohl unübertroffen schönste weit über die Lagune und die vielen kleinen Inseln, über weiße Kreuzfahrtschiffe, gewaltige Kathedralen, Kanäle und Paläste der altehrwürdigen Dogenstadt. Da kosten royale Hotel-Suiten auch über 10.000 Euro die Nacht. Martina Boffelli deutet mit der Hand auf ein Fabrikgebäude tief – ebenfalls auf Giudecca.

Venezianische Traditonen

Es ist nur durch einen winzigen Kanal – über den eine Brücke führt – vom mächtigen, rot leuchtenden Hotel getrennt: Fortuny. Giuseppe Iannó ist der Chef des Hauses, öffnet selbst auf das Klingeln das Fabriktors und macht später sogar den Weg frei in einen verwunschenen Park. Über den Gründer der Fabrik Mariano Fortuny könne er stundenlang erzählen, so Giuseppe. Fortuny war geborener Katalane aus Granada, brachte es zum angesehenen Maler, begehrten Designer, zum pfiffigen Erfinder, Fotograf, Architekt, Bühnenbildner. Er war, wie die Venezianer liebevoll sagen, ein echter „Leonardo da Vinci des Kunstgewerbes“ des 20. Jahrhunderts. Auf den von ihm um 1920 entwickelten Maschinen werden – sogar streng geheim – noch immer wie Seide glitzernde Baumwollstoffe hergestellt. Sie sind gedacht für erlesene zum spontanen Kauf einladende Tagebucheinbände ebenso wie für – von den berühmtesten Innenarchitekten von New York bis Paris verwendeten – Tapeten mit zeitlos modernen Mustern des Jugendstils, für Möbelbezüge oder Kissen und auch Damenkleider vom Feinsten.

.Traditionshandwerk Edelstoffe

Aber nicht nur die Fabrik ist ein versteckter Schatz auf der Insel Giudecca. Der Palazzo Fortuny am Campo San Beneto stellt die einmalige Märchenkulisse für eine Bühne der ganz besonderen Art dar. Denn gleich neben der Fabrik Fortuny braute früher „Dreher“ sein venezianisches Bier. Heute haben am noch immer in den Himmel ragenden Brauerei-Schornstein Künstler aus aller Welt ihre Ateliers gemietet. Da arbeiten etwa die junge, talentierte und dazu hübsche Argentinierin Carolina Raquel Antich ebenso wie der eigenwillige 29jährige Riccardo Muratori und der Römer Daniele Bianchi. Sie erklären den das grüne Kleinod aufsuchenden wenigen Besuchern gern, wie sie ihre Kunst durch die Lagunenstadt Venedig veredeln. Klingeln also erlaubt bei den Künstlern auf der Insel Giudecca, die früher ein billiger Arbeitervorort mit großen Fabriken war; sogar die deutschen Junghans-Uhrenwerke produzierten hier. Heute gilt es als extrem schick, auf dem beschaulichen Eiland zu wohnen.

Brautradition in Venedig

Einen Schatz ganz anderer Art: die Kirche „Il Redentore“ mit Kloster und Klostergarten. An der Pforte steht Franziskaner Agostino und führt auf freundliches Nachfragen gern durch Kirche und Kloster. Und erzählt derweil vom Fest aller Feste Venedigs: „Wie jedes Jahr wird am dritten Wochenende des Juli – dieses Jahr am 18. Juli – wieder in Erinnerung an die ganz Venedig im 16. Jahrhundert so verheerend heimsuchende Pest das Fest der Feste aller Venezianer mit tausenden Booten auf dem Canale della Giudecca, einem riesigen Feuerwerk und einer eigens errichteten Pontonbrücke über den Kanal gefeiert.“ Und erzählt weiter, dass noch 25 Mönche das Kloster bewohnen. Es geht auch in den riesigen Klostergarten. Der liegt direkt am Wasser hinter einer uralten, schon teils verwitterten Mauer, verströmt eine geradezu würdige Stille und ist so leicht nicht wieder zu finden.

Klosterkirche Il Redentore

Kirchen gibt es in Venedig ungefähr 130. Ein Muss für Pater Agostinos: „seine“ von Andrea Palladio gebaute Votivkirche „Il Redentore“. Ebenfalls ein Muss – gegen drei Euro Eintritt: die dreischiffige Santa Maria Gloriosa dei Frari. Auf deren Besuch besteht die auf ihre Stadt – bei aller Kritik – stolze Venezianerin Martina Boffeli . Und das nicht nur deshalb, weil Tizian in der großartigen Pfeilerbasilika begraben liegt. Vielmehr sind hier zwei von Tizians Hauptwerken zu bewundern. Und das von Niemandem übertroffene tizianrot auf dem prächtigen Bild der Himmelfahrt Maria.

Szenenwechsel. Auf der anderen Seite des Kanals –  in der Altstadt von Venedig – am Campo San Trovaso befindet sich eine der zwei noch komplett echte venezianische Gondeln herstellenden Werften. „Gondeln, so schreibt es das Gesetz streng vor“, erklärt der Besitzer der klitzekleinen Werft,  „müssen in Venedig alle schwarz sein. Sie sind in alter Tradition sämtlich asymmetrisch gebaut und bestehen aus genau sieben verschiedenen Holzarten – von der Eiche bis zur Ulme.“ Genau 425 lizensierte Gondeln gibt es in der Stadt. Ohne die Dekoration, die allein bis zu 30 000 Euro kosten kann, ist bei Lorenzo delle Toffale eine nagelneue Gondel für rund 20 000 Euro zu haben.

Venedigs Gondeln sind schwarz

Mittagszeit: Jenseits der von Nepplokalen beherrschten Altstadt weiß Guide Martina Boffelli ein auf örtliche Meeresfrüchte spezialisiertes, dennoch nicht so teures Restaurant und zwar nicht weit von der die zwei Hälften der Altstadt verbindenden Rialto-Brücke. „Hier holt der Wirt die echte Adria-Dorade morgens noch frisch vom Markt und macht es nicht wie einige andere Köche hier, die den Farmfisch billig einkaufen und gutgläubigen Touristen als echte Meerdorade teuer anbieten.“ Anders eben die anheimelnde Trattoria „Antiche Carampane“, genauer ihre Tische in der Gasse davor. Hier sitzt man übrigens direkt im ehemaligen Rotlichtdistrikt San Cassiano, in dem die vom regierenden Dogen peinlich genau lizensierten Damen einst barbusig Kunden lockend aus den Fenstern schauten. Gleich um die Ecke geht es mit der an solche alten Liebeshändel erinnernde „Ponte delle Tette“, der Brücke der Brüste, über einen winzigen Kanal.

Wer nach Venedigs verborgenen Schätzen sucht, begibt sich zudem zur nur schwer, praktisch nur von Kennern zu findenden Scala Contarini dai Bovoio, der weltberühmten 1499 auf Geheiß von Pietro Contarini im Innenhof seines Palastes errichteten Treppe, die ein wenig dem schiefen Turm von Pisa ähnelt.

Scala Contarini dai Bovoio, 1499 von Conatrini

Wer eine venezianische Maske erwerben möchte, der wird beim Kunsthandwerker des „Casanova“ in San Polo gut beraten. Und nicht weit vom Artigianato „Casanova“ lädt die famose Cioccolateria VizioVirtù – ganz unübersehbar an den vielen, leckeres Gefrorenes lutschenden Leuten – zum Gelato oder zum Kauf erlesener Schokoladen-Patisserien ein.

Venezianische Masken

Für das Abendessen geht es zurück aus der quirligen Altstadt auf die Insel Giudecca und konkret in das seit Generationen im Familienbesitz befindliche Restaurant „Trattoria Altanella“. Auf dessen von viel Grün umrankten Terrasse unmittelbar am Wasser haben bereits der Dichter Ernest Hemingway und Filmstar Robert de Niro diniert. Das Altanella ist mit Sicherheit die angenehmste und lauschigste kulinarische Adresse auf der Insel Giudecca und Beispiel par excellence der zu Recht so gelobten italienische Küche.

Menschenleerer Markusplatz

Die Entdeckungstour auf der Suche nach den versteckten Perlen Venedigs findet um Mitternacht ihren überraschenden Abschluss: Da wartet ein schmuckes Wassertaxi nur einige wenige Schritte neben dem Restaurant „Altanella“ in der Calle delle Erbe. In schneller Fahrt geht es unter strahlend leuchtendem  Sternenhimmel zum  derweil fast menschenleeren Markusplatz. Dort tanzt umschlungen und weltvergessen ein einsames Paar. Vor dem Café Florian spielt in der lauen Nachtluft die Kapelle eine letzte, eine deutsche Melodie: „Schau mich bitte nicht so an….“ Ob die Musiker damit voller venezianischem Humor ihre eigene Stadt gemeint haben?

Venezianische Masken

Wichtig zu wissen und Websites

Venedig ist über den internationalen Flughafen Marco Polo erreichbar. Von dort stimmt eine nicht einmal halbstündige Bootsfahrt zur zehn Kilometer entfernten Insel Giudecca auf die Lagunenstadt ein. Die beschauliche Insel liegt gegenüber Venedigs quirliger Altstadt. Hotelpackages wie das vom Hilton Molino Stucky beinhalten oft schon den Transport im komfortablen hauseigenen Wassertaxi (www.molinostuckyhilton.it). Die Fremdenführerin dott.ssa Martina Boffelli ist zu erreichen über die Website www.tourguidevenice.com. Info über die Fabrik Fortuny im Web www.fortuny.com. Die Trattoria Altanella, Giudecca Calle delle Erbe 268, hat die Telefonnummer +39-41-5227780, das Altstadt-Restaurant Antiche Carampane 041-5240165 www.antichecarampane.com. Da beide Restaurants begehrt sind, ist eine Reservierung erforderlich. Sehr Leckereses bietet die Cioccolateria Vizio Virtù in der Sestiere Polo www.viziovirtu.com. Die Monate Mai und Juni sind für einen Venedig-Besuch, so sagen die Venezianer, die schönste Jahreszeit.

Peter Morner (+)

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